Als ich noch ein Kind war gab es eine Zeit, in der Tamagotchis der letzte Schrei waren. Auf dem Schulhof hatte jeder, der etwas auf sich hielt so ein Ding: ein kleines elektronisches Etwas in Form eines Ei’s das gefüttert und bespaßt werden wollte. Wochen, gar monatelang wurde über dieses Phänomen diskutiert, ganze Elternabende veranstaltet zum Umgang mit den kleinen Biestern. Denn: sie starben. Alle. Das Tamagotchi hatte einen eingebauten Selbstzerstörungsalgorithmus und war irgendwann nur noch ein Haufen Elektroschrott. Wir Kinder auf dem Schulhof weinten dann, beschwerten uns und vergaßen das Ding irgendwann. Manchmal denke ich, dass der gute Gartner seinen Hypezyklus ausgehend von der Tamagotchiinvasion erfand. Und auch jetzt müsste er sich verwundert die Augen reiben: Denn: Geschichte wiederholt sich nicht aber sie reimt sich. Das Tamagotchi wird abgelöst von der „Transformation„.
Wir. Transformationsgurus.
Kein Tag vergeht an dem nicht ein Leitartikel, ein Fachaufsatz oder ein gut gemeintes Transformationsmodell irgendwo das Licht der Welt erblickt- oft versehen mit dem Subton der Allgemeingültigkeit, mindestens jedoch der Aura der Destillierung aus Jahren erfolgreicher Beratungsarbeit oder Expertise im Feld X oder Y. Im Umfeld der Transformation gibt es Tipps zur „Digitalen Führung“ zur Transformation ganzer Unternehmen, zur Neuaufstellung von Organisationsarchitekturen oder Teamarbeitsweisen. Viele solcher Empfehlungen, Analysen und Modelle kommen von anerkannten Experten. In einem Fachmagazin publizieren, ein Sachbuch schreiben oder ein TV- Interview geben kann schließlich niemand, der nicht eine gewisse Expertise im Feld vorzuweisen hat. Und so gibt es viele Beiträge von mit dem Nimbus der Beschlagenheit und Erfahrenheit daherkommenden Fachleuten. Oft mit einem klaren und sehr sicheren Tonus was getan werden müsste. Manchmal auch mit erhobenem Zeigefinger, warum etwas nicht funktioniert, dargelegt mit der Gefälligkeit des über den Dingen schwebenden Beraterauges. Das wäre kein Problem. Wenn: „Transformation“ auch wieder nur so ein schnöder Change-Prozess wäre, den Generationen von Management-Beratern, Organisationsentwicklern und Business Exekutives schon tausendfach an anderer Stelle durchgekaut und jetzt eben in neuer Verpackung nochmals angehen würden- alter Wein in neuen Schläuchen gewissermaßen. Dann ließen sich all diese wertvollen Erfahrungen mehr oder minder einfach übertragen. Die klassische Beratung ließe lieb grüßen. Vielleicht in Turnschuhen diesmal. Und mit post-its.
- Was aber wenn die „Transformation“ vor der viele Unternehmen stehen etwas fundamental anderes wäre?
- Was wenn die mit ihr verbundenen Entwicklungen unsere Lebens- und Arbeitswirklichkeit gänzlich auf den Kopf stellten?
- Wenn Transformation im Business- und Gesellschaftskontext so aussehe wie im privaten Leben auch: eine tiefgreifende Veränderung, die nichts lässt wie es ist und für die es eben keine Blaupause gibt?
- Wenn die technologischen Entwicklungen von der KI über die Robotik bis hin zu den unknown unknowns die Keynote-Podien verlassen und schneller als gedacht unsere Wirklichkeit verändern?
Was wäre dann?
Dann: sollten wir als Beraterbranche und alle die hier mit Kunden arbeiten mit viel mehr Demut wirken. Demut wäre das Zauberwort. Nicht: wir können, wir wissen, wir sind. Unsere Erfahrungen aus diversen Change-Prozessen könnten im schlimmsten Fall kontraproduktiv sein. Denn wir könnten versucht sein Altes auf Neues zu übertragen, unser Wissen und uns damit in die Irre führen. Bei vielen Fragen müssten wir als Berater und Begleiter öfter mal Weiteratmen und nicht wohlfeile Antworten geben die sich in 5-10 Jahren als Äquivalent zu Steve Ballmers Prophezeiung zur Zukunft des Smartphones herausstellen könnten.
Das Paradoxon liegt vor unser aller Augen. Kein Kongress, keine Tagung, kein Summit findet statt ohne die schon der Konvention daherkommende Analyse: Die Welt wird immer komplexer, schneller und unvorhersehbarer. Und gleichzeitig sind gerade Vorgehen und Modell en vogue die -auch unbeabsichtigterweise- den Eindruck vermitteln, man könne Transformation so super hinkriegen. Zum Beispiel indem viele zu Scrum Mastern ausgebildet werden. Oder zu Transformationsmanagern. Oder Hierarchien abgebaut werden. Oder Holokratie eingeführt wird. Oder alles digitalisiert wird. Oder oder oder… Das ist, als würde Forrest Gump sagen
“Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie was man kriegt“
Um dann nach einer Kunstpause hinzuzufügen: „Aber wenn du die Pralinen an der Ecke dort drüben kauft, da weißt du immer was du bekommst und ich garantiere dir- es wird dir schmecken.“ Zack! Ganze Pointe versaut. Und stimmen tut es oft auch nicht.
Das Offensichtliche ist aber: wir wissen an vielen Stellen nicht wohin die (Transformations-) Reise geht. Selbst ein Berufszukunftsforscher wie Matthias Horx beschreibt heute vorhandene und sichtbare Megatrends. Kann aber im Detail keine Skizze der Zukunft entwerfen. Wirklich nicht. Ich hab sie überall gesucht. Wer sollte da genau beschreiben können wie ein vollständig transformierter Konzern mit 100.000 oder mehr Mitarbeitern in 10 Jahren aussieht? Wer auch immer das genau beschreiben kann und auch ein detailliertes Modell für den Weg dorthin hat: hat entweder prophetische Gaben oder aber überschätzt sich. Die Chance liegt bei 50 %. Schließlich ist eine Transformation kein klassischer Change-Prozess- Sie umfasst das Herz eines jeden Unternehmens und spart nichts aus, keine Produkte, Dienstleistungsportfolios, Prozesse, Organisationsstrukturen, Werte oder Annahmen des Unternehmens über sich selbst. Hier zeigt sich schon das nächste Problem: unter „Transformation“ versteht jeder etwas anderes. Und wer hat schon eine vollständige Unternehmenstransformation begleitet? Diese Personen sind rar gesät, weil wir alle noch nicht viele Erfahrungen mit derlei umfassenden Transformationen haben. Dens sie entstehen jetzt gerade. Genau. Jetzt.
Demut. Das Zauberwort lautet: Demut. Die gesamte Unternehmenswelt und die Beraterbranche mit ihr lernt gerade völlig neue Ansätze. Wenn die Geschichte von der Komplexität stimmt wird wenig davon jemals als Best Practise enden. Modelle, die schlicht die Pyramide durch Kreise, analoges durch digitales und maschinelles wieder durch menschliches ersetzen und als Blaupause propagieren werden in einigen Jahren möglicherweise höflich mit einem Wort betitelt werden: unterkomplex.
Die Beraterrolle in der Transformation.
Wahrscheinlich war der Wissens- und Erfahrungsvorsprung der Beraterbranche in den vergangenen Jahrzehnten nie so gering wie jetzt in diesen Themenstellungen. Die Komplexität lächelt und die Patentrezepte bleiben in der Schublade. Das liegt daran, dass Vorgehen wie Lean, Agile, Sprint, Design Thinking, Business Modell Canvas etc. Methoden sind, die in Komplexität wichtige Instrumente sein können. Sie allein aber nicht ausreichen. Taten sie noch nie. Und tun es jetzt immer weniger. Auch bestehende Theorien aus der klassischen Organisationsentwicklung und Managementforschung stoßen an vielen Stellen an ihre Grenzen. Sicher werden derzeit irgendwo gerade neue geschrieben, die erst in Jahren Popularität finden werden. Douglas McGregor war in den 6oern auch nicht gerade „the hippest person on the planet“. Das heißt auch, dass es nicht das Patentmodell der Transformation, den Prozess dorthin oder diesen Wissenskanon dafür braucht. Das ist für uns schmerzlich. Uns Berater: denn wir verkaufen auch Sicherheit, Wissen und Erfahrung im Umgang mit Unsicherheit. Und uns Kunden: denn als Menschen sehnen wir uns auch nach Klarheit und Orientierung. Ein beidseitig erwachsener Umgang mit den derzeitigen Entwicklungen verlangt deshalb (mindestens) dreierlei:
(1) Weniger und vor allem realistischere Transformationsversprechen auf der Beraterseite.
(2) Oftmals weniger klare Versprechens- und Leistungsforderungen auf der Kundenseite.
(3) Ein partnerschaftliches Erkunden und Gestalten der neuen Transformations-Welt. Wissend, dass der Beratungsmehrwert nach wie vor vorhanden ist. Sich aber mehr und mehr in Richtung Impuls-, Reflexions-, und Begleitungstätigkeit verschieben wird.
Dafür wünsche ich uns allen viel Erfolg! Und: Mut zur Demut.
Sascha Bilert
Literatur/ Links etc.:
Gartner-Hypezyklus
Steve Ballmers Smartphone Prophezeiung
Megatrends-Matthias Horx
Douglas McGregor